03. Februar 2020

Kompetenz vor Alter – Dr. Barbara Covarrubias Venegas im Interview im ESF Magazin insight

In fast allen entwickelten Ländern der Welt wächst die Zahl als auch der Anteil der älteren Menschen. Die Auswirkungen sind erheblich und betreffen nahezu alle Bereiche der Gesellschaft und der Wirtschaft. Wie steht es um die Alternsforschung in Österreich und Europa? Mit insight spricht Barbara Covarrubias Venegas über stereotype Meinungen und das Veränderungspotenzial von Gesellschaft und Wirtschaft. Frau Covarrubias Venegas ist Forscherin & Lektorin an Hochschulen im In- und Ausland. Ihr Schwerpunkt ist Altersdiversität, Lebensphasenorientierung, Neue Arbeitswelten, Organisationskultur und Interkulturelles Management.

CV: „Alternsforschung“ gibt es schon lange, und wir können auf eine Menge aussagekräftiger, empirisch bestätigter Ergebnisse verweisen. Weil unser Gehirn aber zur Vereinfachung neigt, wird gerne unreflektiert generalisiert. Derartige Stereotypen ignorieren individuelle Unterschiede einer Gruppe, sodass unser Wissen nur langsam im organisatorischen Kontext Niederschlag findet. Aus wirtschaftlicher Sicht wäre eine Sensibilisierung daher besonders wichtig.

ESF: Wie lassen sich Menschen sensibilisieren?

CV: Die Medien sind bereits sehr gestaltend. Sie zeichnen ein neues Bild zu Diversität, Gleichgeschlechtlichkeit, Alter. Doch auch Unternehmen haben angesichts der vielen Stunden, die in der Arbeit verbracht werden, gesellschaftspolitische Bedeutung, vor allem die direkten Vorgesetzten haben enormen Einfluss.

ESF: Wie hoch ist die Beteiligung der Unternehmen an der gesellschaftspolitischen Aufklärung?

CV: Unternehmen müssen aus Eigeninteresse aktiv sein. Schließlich gestalten zunehmend Menschen ab 50 die Gesellschaft und bilden einen großen Teil unserer Belegschaft. Früher wurden gerade sie vernachlässigt – kaum Weiterentwicklungsmöglichkeiten und Karrieresprünge. Ohne berufliche Perspektiven und ohne Wertschätzung ziehen sich Menschen zurück und sind nicht mehr so sehr auf den betrieblichen Wertschöpfungsprozess fokussiert.

ESF: Und wie stehen die Betroffenen selbst dazu, länger ins Arbeitsleben eingebunden zu sein?

CV: Dazu gibt es sehr aussagekräftige europaweite Befragungen. Aktuelle Studien zeigen, dass ein immer stärker steigender Anteil an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über die Pension hinaus arbeiten wollen. Sie identifizieren sich mit ihrer Arbeit, egal in welcher Branche sie tätig sind. Schon heute gibt es sehr erfolgreiche Modelle für Senior Experts, z.B. an Universitäten und in Beratungsunternehmen.

ESF: Was ist der Unterschied zwischen Generationenmanagement und Lebensphasenorientierung?

CV: Früher waren Altersgruppen zuordenbar, das machte die Mitarbeiterführung einfacher. Heute gibt es eine große Vielfalt an Interessen, Lebenszielen und individuellen Bedürfnissen. Deshalb sprechen wir nicht mehr von der Generation Baby Boomer, X, Y oder Z, sondern von der jeweiligen Lebensphase. Lebensphasenorientierte Unternehmensplanung schließt also berufliche und private Ziele der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein.

ESF: Soll heißen, dass die Belegschaft ihre Vorstellungen auch klar einfordern muss?

CV: Natürlich. Welchen Wert man der Zeit schenkt, kann nur individuell beantwortet werden – Sabbatical, Familienplanung, Pflegefall, Hausbau…?

„One size fits all“ funktioniert jedenfalls nicht mehr. Vielleicht steckt eine 25 jährige Mitarbeiterin gerade in einer großen Weiterentwicklungsphase? Oder kann ein 60-Jähriger ein Projekt voranbringen? Firmenkultur ist nicht vom Alter bestimmt, sondern wird von Wertehaltungen
gelenkt.

ESF: Wie kann Weiterbildung, speziell der älteren Belegschaft, in der digitalen Zeit aussehen?

CV: Hier gibt es viel Handlungsbedarf. Die Älteren müssen digitale Skills erwerben, um die Technologien besser nutzen zu können. Die Jungen sind zwar flotter in der Nutzung, sind dabei aber nicht zwangsläufig auch effizienter. Die Kompetenz der Zukunft heißt für mich selbstreguliertes Lernen, also eine „Selbstlernkompetenz“, zu entwickeln. Alle werden in die Pflicht genommen, Wissenslücken zu erkennen und Strategien für die Selbstmotivation zu entwickeln. Proaktives Handeln ist keineswegs eine Frage des Alters. Proaktiv gilt es immer zu sein, für Karriere, Gesundheit, privat …

ESF: Es scheint noch viel Wissensarbeit notwendig zu sein. Könnte das auch ein Impuls für Förderstellen, wie den ESF sein?

CV: Der ESF könnte sogar eine extrem wichtige Rolle spielen! 2012 war das Jahr des aktiven Alterns. Damals wurden die Mittel sehr gut zur Sensibilisierung eingesetzt, aber es war meiner Wahrnehmung nach nur ein kurzes Aufflackern. Um nachhaltiges Bewusstsein zu schaffen, sollten Investitionen langfristig geplant sein. Wichtig wäre es, Alternsstereotypen zu entkräften. Mit Hilfe der angewandten Forschung können Unternehmenstools entwickelt werden, die ebenso für andere nützlich sind.

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